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Jetzt ist es erschienen: Das Buch "Die Regensammlerin" mit der preisgekrönten Geschichte von Michaela Bindernagel, alias Sylke Wegener, "Die Beuteldeutschen"

Wir hatten versprochen, dass wir nach erfolgter Veröffentlichung die Geschichte hier zur Kenntnis geben werden. Vielleicht regt es auch dazu an, das Buch in Gänze zu lesen. Es lohnt sich auf jeden Fall. Ob es die Regensammlerin selbst ist, die einen Weg findet, das Dorf in der Trockenheit mit Wasser zu versorgen, das Schicksal junger Leguane oder die weiten Landschaften von Alaska mit Fischottern und Rentieren. Doch nun folgen:

Die Beuteldeutschen

von Michaela Bindernagel

Ich bin eine Beuteldeutsche und stolz darauf. Sie wissen nicht, wer die Beuteldeutschen sind? Ich kann nachhelfen: Ende der 70-er und in den 80- er Jahren wurden in einigen Ländern Europas die Deutschen, welche immer einen Stoffbeutel mit sich führten, so bezeichnet. Andere Ausländer ließen sich, wie die Inländer, grundsätzlich alles in Plastiktüten verpacken, damals der Ausdruck für Fortschritt. Einige der Deutschen trugen etwas am Handgelenk, so groß wie ein Portemonnaie, mit Reißverschluss. Wenn sie einkauften oder am Strand Steine sammelten oder, oder, oder…. entfaltete sich dieses „fast Nichts“ hin zu einem Stoffbeutel, der die erworbenen Dinge aufnahm.

Heute, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, lebe ich in Portugal: Plastiktüten überall. Obwohl ich zu den Beuteldeutschen gehöre, muss ich zur Kenntnis nehmen, dass es fast unmöglich ist, sich dagegen zu wehren. Freundliche Verkäuferinnen packen mir, als Dienstleistung, die Ware gleich in eine Tüte aus Weichplaste. Manchmal bin ich mit meinem Beutel schnell genug, um diese Zuvorkommenheit zu verhindern. Das gelingt nicht immer. So lerne ich meine ersten portugiesischen Worte: „Por favor, nao saco!“ (Bitte, keine Tüte). Das wird sehr unterschiedlich aufgenommen. Während im Supermarkt ein erstaunter Blick folgt mit der Nachfrage, ob ich tatsächlich keine Tüte möchte, freut sich die Händlerin auf dem Wochenmarkt. Sie erklärt mir, dass die Plastiktüten für die Obst- und Gemüsehändler teuer sind. Dabei werfen die Kunden sie in aller Regel zu Hause weg. Nun, das zumindest passiert bei mir nicht einfach so. Wenn ich einer Plastiktüte nicht entgehen kann, wird sie zu Hause als Mülleimer genutzt, bevor sie dann mit Inhalt in den Müll kommt.

Ich wohne seit einiger Zeit in Portugal und halte sehr viel davon, die Gesetze, die ethischen Vorstellungen und die Verhaltensweisen in diesem Land, in dem ich Ausländerin bin, zu respektieren und zu achten. Ich fühle mich auch nicht dazu berufen, besserwisserische Ratschläge zu erteilen, wie Dieses oder Jenes zu ändern wäre. Vielmehr denke ich an eine Lebensweisheit der Aborigines, der Ureinwohner Australiens: Beobachten ohne zu werten. Zugegebenermaßen weiche ich manches Mal davon ab. Dafür bin ich Mensch. Doch ich spüre, dass es mir gut bekommt, nicht immer gleich eine Wertung parat zu haben, wie so viele andere meiner Mitbürger. So beobachte ich den Plastiktütenwahn und trage meinen Beutel mit mir herum. Die Achtsamkeit für meine Umgebung wächst beständig an, seitdem ich mehr beobachte und weniger, vor allem vorschnell, bewerte.

Ich genieße in vollen Zügen das portugiesische Leben ohne die beständige deutsche Hektik. Dabei bleibe ich Deutsche, geprägt von der Kultur und Ethik meines Heimatlandes, in dem ich erzogen wurde und viele Jahre lebte. Das ist ein Teil meiner ganz individuellen Persönlichkeit, die ich nicht aufgeben will. So stelle ich mir angesichts der Plastiktütenberge und meines kleinen Beutels am Handgelenk die Frage, was Integration in Portugal für mich bedeutet, sehr persönlich und ganz real. Erfordert es Anpassung bis hin zur Selbstaufgabe, also Plastiktüte statt Stoffbeutel? Da wehrt sich mein Innerstes: Ich will meinen Beutel behalten dürfen! Je länger ich über die Frage der Integration nachdenke, desto klarer wird mir: Integration ist ein ständiges Wechselspiel zwischen meiner Persönlichkeit und meinem Umfeld. In dieser Hinsicht hat sich nichts geändert: Auch in Deutschland gab es das immerwährende Spannungsfeld zwischen Individualität und Gemeinschaft.

Ich habe ein portugiesisches Umfeld gewählt. Muss das bedingungslose Anpassung an die Plastiktüte heißen?

Für das Wort Integration finde ich im Fremdwörterbuch viele Entsprechungen. Mir gefallen am besten „Verzahnen“ und „Einbringen“, die bestehende Gemeinschaft bereichern. In diesem Sinne integriere ich mich gern. Die Menschen im Land mit der westlichsten Küste Europas lieben Fußball und ihre Fußballstars, das Klima, die Natur schlechthin und das Meer, besonders das Meer. Der Atlantik bietet Nahrung, Erholung, Tourismus, Verbindung zu anderen Kontinenten, Schönheit, Wildheit, Kraft und Sanftheit. Die größten Wellen Europas laufen hier an die Küste, reißen manchmal auch Menschen mit sich. Von den Klippen stürzen immer wieder unvorsichtige Angler und Wanderer in die Tiefe. Nicht alle werden gefunden. Die Natur Portugals bietet Wundervolles, Herrliches, aber auch Gefährliches. Wir Deutschen sind so sehr an unsere ausgeschilderten, überall gesicherten Wege gewöhnt, dass uns das Wilde reizt. Durch das Gewohnheitsrecht auf Sicherheit haben viele es verlernt, achtsam die Wildheit zu beobachten und auf sich selbst aufzupassen, Verantwortung für sich in der Natur zu übernehmen. Den Portugiesen geht es aus anderen Gründen ähnlich: Sie befreiten sich von Salazar mit einer sozialistischen Revolution, hier Nelkenrevolution benannt, und wehren sich auf Grund der tief verwurzelten persönlichen Erfahrungen mit einem Überwachungsstaat mehrheitlich gegen jede Form von staatlicher Bevormundung. Das besondere portugiesische Freiheitsstreben wiederum führt ebenfalls zu einer gewissen Unvorsichtigkeit. So treffen wir uns am selben Punkt, wenn auch aus unterschiedlichen Richtungen: Wer keine Verantwortung für sich selbst übernimmt, kann es letztlich auch nicht wirklich für andere und schon gar nicht für die Natur.

Eines Nachts habe ich einen Traum:

Ich sitze im Nachmittagssonnenschein am südlichen Strand in einer von Felsen eingeschlossenen Atlantikbucht. Seichte Wellen schwappen auf den Sand. Auf sieben von ihnen folgen drei besonders Hohe. Die Flut läuft auf und jede große Welle greift sich ein deutliches Stück Strand, auf das dann die kleinen Wellen ihr Wasser entlassen. So geht es weiter. Ich weiche Stück für Stück zurück. Plötzlich erhebt sich eine besonders hohe Welle. Ich stehe auf und trete rückwärts noch weiter nach hinten, den Blick auf die Welle geheftet. Sie bricht sich und lässt das Wasser bis an meine Füße sprudeln, darin einen zappelnden großen Fisch. Der schaut mich mit offenen Augen an und spricht: „Ich bin schon sehr alt. Deshalb habe ich Angst um meine Kinder und Enkel und alle meine Verwandte in der Weite des Meeres.“

„Warum kann ich dich verstehen?“, frage ich den Fisch.

„Weil du ein besonderer Mensch bist.“

„Was macht dir Angst in der Weite des Meeres?“

„Ihr Menschen.“

„Sind es die Fischer mit ihren Netzen, die euch fangen, oder die lauten und immer größeren Schiffe, welche die Meere befahren?“, frage ich weiter.

„Nein, weder noch! Es sind die Menschen auf den weiten Kontinenten, durch die wir und letztlich alle Lebewesen gefährdet sind, auch du. Ich wollte dich warnen. Du solltest zukünftig lieber keinen Fisch mehr essen, er wird dich krank machen.“

„Hier in Portugal ist der Fisch so frisch und reichlich, dass ich mir nicht vorstellen kann, darauf zu verzichten. Warum soll mich frischer Fisch krank machen?“

„Ihr Menschen schmeißt viel Plastik in die Meere. Wir Meerestiere sind dem ausgeliefert und nehmen die kleinen Teilchen mit unserer Nahrung auf. Einige sterben daran, andere werden von Fischern gefangen. Auf diese Art esst ihr eure eigenen weggeworfenen Kunststoffe. Der Plastikwahn wird die Meereswirtschaft Portugals letztlich zerstören. Ich möchte, dass du dich und deine Lieben schützst.“

Kaum spricht der Fisch diese Worte zu Ende, kommt erneut eine große Welle und nimmt ihn wieder mit hinaus aufs Meer. Meine Füße sind nass, weil ich nicht mehr auf das Wasser geachtet hatte. Als ich meinen Blick hebe, bemerke ich, dass die Sonne untergehen will. Sie bestrahlt die umliegenden Felsen, welche in unterschiedlichen Farben leuchten: ein unheimlich berührender Anblick. Ich fühle Schmetterlinge im Bauch bei der Betrachtung. Doch dann muss ich an den Fisch denken, und die Schmetterlinge verschwinden.

Wieder zu Hause recherchiere ich im Internet über Plastiktüten. Das Bild wird immer hoffnungsloser. Plastiktüten und anderer Plastikmüll landen so massenhaft im Meer, dass sie an sich herrliche Strände regelrecht überfluten, weil das Wasser sie dort hin treibt. Sie verwesen nicht, werden allerhöchstens zerteilt in viele mikroskopisch kleine Teilchen. Mit dem bloßen Auge können wir sie nicht mehr wahrnehmen, spüren auch nicht. Doch überall im Meereswasser befinden sich heute diese Miniminiminiplastiken. Scheinbar berührt es uns Menschen nicht. Was wir nicht sehen oder spüren können, wird schlichtweg ignoriert. Doch die Fische können dem nicht entgehen. Der große alte Fisch am Strand hatte Recht. Warum entging mir das bis jetzt? Mein Stoffbeutel war ein Synonym für Qualität und Dauerhaftigkeit statt Wegwerfmentalität. Konnte er zu einem Synonym für Meeres- und Gewässerschutz werden, vielleicht für den Umweltschutz überhaupt?

Ob ihr es glaubt oder nicht: In Portugal existieren Beutelmenschen. In den folgenden Tagen bin ich mit wachen Blicken beobachtend unterwegs und mir begegnen so einige davon. Ich bin nicht allein! Wir reden miteinander und treffen uns eines Abends in den Bergen von Monchique: Deutsche, Engländer, Holländer, Franzosen, Spanier und Portugiesen. Sie alle leben hier und gehören zu der besonderen Spezies der Beutelmenschen. Einer von ihnen erzählt, er hätte günstig einen großen Ballen Leinenstoff erwerben können. Seine Frau besorgte ein Beutelschnittmuster und näht gemeinsam mit einer portugiesischen Nachbarin Leineneinkaufsbeutel. Er selbst verteilt diese an unterschiedlichste Geschäfte mit der Bitte, den Kunden einen Beutel statt einer Plastiktüte zu überreichen. So will er im Land ein Bewusstsein für die wichtigen Umweltkreisläufe schaffen, behutsam und langsam. Kaum erzählt, finden sich weitere Frauen, die nähen können und mitmachen wollen. Ein Portugiese macht den Vorschlag, die Beutel mit einem aussagekräftigen Logo zu versehen wie: „Schutz dem Atlantik!“ Natürlich auf Portugiesisch. Ein Franzose will dazu ein Bild entwerfen und ein Spanier könnte es organisieren, dass die Beutel bedruckt werden. So verteilen sich die unterschiedlichsten Aufgaben. Im Meinungsaustausch über die Beutelsache geht es immer mehr um Stoffkreisläufe und die ganz konkreten Auswirkungen im täglichen portugiesischen Leben, wenn es keine Plastiktüten mehr gibt. Dort müssen irgendwann einmal Lösungen gefunden werden. Wir wollen zunächst einen kleinen Schritt machen und Stoffeinkaufsbeutel nähen und verteilen.

In der folgenden Nacht habe ich wieder einen Traum:

Ringsum in der Algarve und im Alentejo nähen Menschen unsere Stoffbeutel, die inzwischen in ganz Europa verteilt werden. Natürlich nicht mehr kostenlos. Die Bewohner des Landes brauchen eine Arbeit, von der sie leben können. Der Gewässerschutz schafft im Süden Portugals Arbeitsplätze! Das ist gut: Die internationale Gemeinschaft vor Ort freut sich und feiert ein großes Fest, denn in Portugal wird aus jeder Gelegenheit eine freudige Feierlichkeit.

Als ich erwache frage ich mich, ob das wohl wahr werden kann: Die Beutelmenschen bereichern die Gemeinschaft im Südwesten Europas ganz konkret und ganz real.

Wir wollen den Plastiktütenirrsinn auf liebevolle Art und Weise schrittweise beenden unter Berücksichtigung der portugiesischen Art zu leben. Wegen dieser Lebensart sind wir schließlich hier.